Auf dem Waggonbaugelände Werk 1 steht seit zwei Jahren ein Jugend- und Sozialzentrum. Ein Ort für alle, von dem nur wenige Görlitzer wissen.
Am Montag, den 20. März 2023 erfuhr die Verwaltungsmitarbeiterin Anja Ostermann über einen unbedeutenden regionalen Telegramkanal, dass das bekannte Koch-Duo mit den Künstlernamen „Thang & Chung“ bei einem Koch-Event namens „Küche für Alle“ ihr Können präsentieren würde. Sie beschloss die Veranstaltung am Mittwoch, den 22. März zu besuchen. Der Name der Lokation „RABRYKA“ sagte ihr im Ansatz etwas, fuhr sie doch seit Jahren täglich über die Christoph-Lüders-Straße Richtung Jägerkaserne zu ihrer Arbeitsstelle. Doch am Tag des Events konnte Frau Ostermann nach langer Suche den Veranstaltungsort einfach nicht wiederfinden. Sie war sehr verwundert, denn sie meinte sich zu erinnern, dass am ehemaligen Waggonbau noch bis vor einem Tag ein Banner mit dem Namen der Örtlichkeit hing. Doch sicher war sie sich nicht und so überkam sie der Gedanke, die „RABRYKA“ nur erträumt zu haben und fuhr heim. Bei einem Gespräch im Büro stellte sie am nächsten Tag fest, dass dies tatsächlich kein Traum war, sondern die RABRYKA im Werk 1 wohl wirklich existierte. Sie beschloss aus der Verwaltung heraus etwas zu tun.
Über die fehlende Außenwahrnehmung berichtete auch die Sächsische Zeitung in selbiger Woche:
„Millionengrab soll nicht gefunden werden – wohl nur für ausgewählte Gäste, statt für alle“ war in dem Artikel zu lesen. Darin wurde ein kulturaffiner Bürger, Walter Schienenthal, zitiert: „Das bedeutendste Kulturzentrum für Jung und Alt ist nicht sichtbar genug“. In einem redaktionellen Kommentar neben dem Beitrag verwies die SZ darauf, sich in jeglicher Form von der wertenden Bezeichnung „bedeutendste“ in Zusammenhang mit dem Werk 1 zu distanzieren. Dies sei lediglich der Vollständigkeit halber im subjektiven Zitat erfasst worden.
Aufgrund der Strahlkraft der Regionalzeitung und des hohen Echos in den sozialen Medien, schaltete sich das Landesamt für Denkmalpflege in Sachsen ein. „Nachdem schon zwei historisch wertvolle Villen am Görlitzer Postplatz fallen müssen, darf das Tor zu Görlitz nicht auch nachgeben!!!1!!1“ kommentierte Landeskonservator Alfonso Führwischt auf Facebook.
Auch Fraktionen des Görlitzer Stadtrates befürworten mehr Sichtbarkeit für das Zentrum für Senioren- und Soziokultur, für das sie immerhin Millionen freigegeben haben. In einem beispiellosen Eilverfahren wurden – mit tatkräftiger Unterstützung von Sachbearbeiterin Frau Ostermann – Sondersitzungen im Görlitzer Ordnungsamt einberufen und mit Nachdruck durch einen ehemaligen Oberbürgermeister der Stadt, welcher mit seiner Faust den Sitzungstisch zum Beben brachte, die neuen Reklame-Pläne des Betreibers des Werk 1 genehmigt.
So wurde nicht nur die Anbringung eines Banners gewährleistet, sondern auch eine Leuchtreklame mit durchlaufendem Schriftzug im oberen Teil des ehemaligen Fabrikhaupttores. Die Gelder dafür wird die Stadt Görlitz aus den Mitteln des Strukturwandels und Kohleausstieg beziehen.
Nach der Veröffentlichung der Pläne ließen erste Reaktionen nicht lange auf sich warten. Der Utopie-Investor und Eigentümer der angrenzenden Mehlfabrik, Bernd du Queen, äußerte sich inspiriert: Er wolle nun auch seine vielen eigenen Pläne in die Tat umsetzen, um die beiden Fabrikgelände zu beleben. Aber auch kritische Stimmen wurden laut. So beschwerte sich, wenige Stunden nach Bekanntgabe der Genehmigung, die schichtarbeitende Anwohnerin Paula Schneider, da durch Banner und Schild nicht nur unangenehme “Flattergeräusche“, sondern auch eine immense Lichtverschmutzung zu erwarten sei. Etwaige Bedenken räumte die Geschäftsführerin des Werk 1 Juliane Schlitter per Brief aus. Die Beleuchtung sei nur für direkte Anwohner störend. Viel alternativer Wohnraum in Görlitz finde sich zum Glück. Die durch Steuergelder gut bezahlten Angestellten helfen gern bei allen Unannehmlichkeiten, wie auch Umzügen.
Die Werbung soll nach aktuellen Plänen bis Ende April angebracht werden. Und so freut sich Verwaltungsmitarbeiterin Anja Ostermann auf die nächste „Küche für Alle“, in der Hoffnung, dass sie das Jugendzentrum dann auch findet. Ob sie einen Parkplatz finde, wüsste sie noch nicht. Der Parkplatz an der Christoph-Lüders-Straße sei ständig belegt. Sie überlegt, den Bus zu nehmen.
Bild: Planungsstand 31.03.2023, Entwurf von Margot Koza